Irgendwann in diesem Herbst hatte ich keinen Bock mehr. Ich löschte meinen X-Account. Elon Musk hat davon nichts gemerkt und ärmer hat ihn meine Kündigung vermutlich auch nicht gemacht.
Ich gebe zu, ich habe schon Twitter nicht häufig genutzt, weil ich schlicht keine Zeit hatte. Aber hier und da Beiträge gelesen und geliked, manchmal sogar kommentiert. Die Zahl meiner eigenen Beiträge war sehr überschaubar. Und ich fand es auch für die Weltöffentlichkeit nicht so interessant, dass ich in Cottbus auf dem Bahnhof stand und ein Eis aß.
Mit der Zeit habe ich die App so gut wie gar nicht mehr geöffnet. Und wenn ich es tat, dann wurde mir schlecht. Also Schluss damit, für meine persönliche Hygiene war das wunderbar. Nun hat sich auch der FC St. Pauli von der Plattform verabschiedet, Begründung: „Inhaber Elon Musk hat aus einem Debatten-Raum einen Hass-Verstärker gemacht“. Ebenso schließt jetzt der renommierte britische „Guardian“ seine 80 Accounts, denn X sei zu einer toxischen Plattform geworden. Und heute hat Werder Bremen nachgezogen.
Ich glaube, dass die Polarisierung der Meinungen tatsächlich so stark voranschreitet, dass jeder überlegen sollte, wo er noch mitmacht oder wo er sich rauszieht. Ein „Ich lass das mal laufen, macht doch nichts“ geht nicht mehr.
Die Überleitung ist jetzt nicht ganz einfach, aber: In dieser Woche meldeten die Deutsche Bank und der Versender Otto, dass sie die Option Home-Office einschränken. Maximal zwei Tage die Woche sind bei der Bank noch möglich, der Versender erwartet 50% Anwesenheit. Der Aufschrei war groß, zumindest Otto versuchte auf einem Townhall Meeting am Donnerstag, Unruhe und Ängste unter den Beschäftigten aufzufangen. Mancher unkt schon, dass diese Konzerne wohl Personalmangel beklagen würden, sobald die Konjunktur anzieht und Firmen sich wieder bei Arbeitnehmern bewerben müssen.
Gleichzeitig las ich einen Artikel über den Kondomhersteller Einhorn. Dort gibt es unbegrenzten Urlaub und die Möglichkeit zu „Null-Bock-Tagen“. Sprich, man fühlt sich morgens leer und schreibt der Firma, dass man sich einen solchen Tag nimmt. Laut Markus Wörner, Head of People & Culture, summiert sich das pro Person auf fünf Tage im Jahr. Seine Philosophie: „Eine Person, die einen Tag zu Hause bleibt und dann wieder zu 100 Prozent arbeitet, ist wertvoller als jemand, der ständig nur 50 Prozent gibt.“
Auch hier stellt sich die Frage: Bleiben oder gehen? Finde ich die neue Regelung bei den beiden Konzernen gut? Oder verlasse ich diese und wechsle lieber zu einem Unternehmen mit der Einhorn-Philosophie? Oder will ich genau da nicht hin, weil ich vielleicht andere mit durchschleppen muss?
Einen Arbeitgeberwechsel muss man sich angesichts der stagnierenden Wirtschaft leisten können. Aber unabhängig davon ist das eine recht kommode Wahl, wirklich schlimm ist keine der Optionen. Das ist bei der Entscheidung zu einer toxischen Plattform anders.