Sie kennen das womöglich aus dem Familien- oder Freundeskreis: Die Fähigkeit jüngerer Menschen längere Texte, gar Bücher zu lesen sinkt. Was bei Ihnen vielleicht nur ein wiederholt bestätigter Eindruck ist, ist durch weltweite Untersuchungen wie die Pirls-Studie mit Zahlen bestätigt worden.
Besonders groß ist das Erschrecken in den Ländern Dänemark und Norwegen, die so stolz auf ihre weit fortgeschrittene Digitalisierung sind, an deren Ausmaß inzwischen aber zweifeln. Die beiden Länder liegen in Europa auf den letzten beiden Plätzen, was die Lesefähigkeit der Viertklässler angeht.
Die dänische Tageszeitung „Politiken“ hat nun eine Artikelserie unter dem Titel „Lesehass“ gestartet. Ein hartes Wort, gewiss, aber wohl ein richtiges. Da geht es dann nicht mehr darum, dass Kinder wenig lesen oder dazu keine Lust verspüren. Sondern darum, dass sie das Lesen regelrecht hassen. Aggressiv werden, mit Dingen schmeißen, die Hände vor das Gesicht halten, auf Kissen einschlagen, wenn sie zum Lesen aufgefordert werden. Sie sehen im Lesen keinen Sinn, es bringt ihnen nichts, es raubt nur Zeit für wichtigeres.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. In Dänemark hat man viele regionale Bibliotheken geschlossen, ebenso Schulbibliotheken, die Ausbildung zum Schulbibliothekar hat man abgeschafft. Die Bücheretats für Schulen wurden reduziert. Um der Leseunlust entgegen zu wirken, hat man aber stark dafür geworben, dass jedes Kind jeden Tag 20 Minuten lesen soll. Lesen als Pflicht, nicht als Vergnügen, kein guter Ansatz.
Und natürlich sind die vielen anderen Freizeitangebote große Konkurrenz. Allen voran das Handy mit TikTok. Jeder kennt den Blick der Kinder und Jugendlichen im 10-Sekundentakt auf den Schirm.
In ihrer Verzweiflung haben Eltern sich die tollsten Anreize ausgedacht. Geld pro gelesene Seite oder bei einer bestimmten Anzahl gelesener Bücher ein Kinobesuch. Sie haben aber auch gedroht und gehandelt, etwa den Router ausgestöpselt oder den Besuch bei Freunden untersagt. Genutzt hat das alles wenig. Es gibt auch Stimmen, die sich wünschen, dass die Schule mit ihrer Autorität von den Kindern fordere, jeden Tag 20 Minuten zu lesen. Ich bin da immer skeptisch, wenn Dritte die Aufgaben von Eltern übernehmen sollen. Wenn also zum Beispiel die Kita den Kindern das Essen mit Besteck beibringen soll.
Aber lesen wir nicht mehr als je zuvor? Ja, aber vor allem im Netz. Die kurzen und fragmentierten Texte, durch die weder unser Wortschatz noch unsere Lesefähigkeit längerer Texte zunimmt. Es ist ein Lesen ohne Anstrengung und Nachhaltigkeit.
Durch das Lesen von Büchern bauen wir Empathie, Fantasie und Reflexion aus, kritisches Denken und Analyse. Und genau diese Fähigkeiten brauchen wir in einer immer unübersichtlicheren und hektischeren Welt. Aber wie vermitteln wir das unseren Kindern und Enkeln?