Victoria von Schweden und Whoopi Goldberg sind es, Bill Gates und Bodo Ramelow ebenso, Steve Jobs und Walt Disney waren es auch: Legastheniker. Diese Schwäche wurde früher tabuisiert. Ich erinnere mich an meine Grundschulzeit, die zugegebenermaßen etwas zurückliegt, da gab es einen Jungen, der die Klassenarbeiten nie mitschreiben musste. Das wurde natürlich nicht begründet, sondern war eben so. Meine Mutter musste mir das mühsam erklären.
Diese Tabuisierung wird allmählich aufgeweicht, aber es ist noch viel Luft nach oben. Nur 23% der Betroffenen reden mit ihren Kollegen über ihre Einschränkung, 9% tun es nie. Die Gründe sind Angst vor Nachteilen im Beruf, eine befürchtete andersartige Behandlung sowie Vorurteile. Andererseits fühlen sich auch 56% der Nicht-Legastheniker im Umgang mit betroffenen Kollegen unsicher. So eine LinkedIn-Untersuchung aus dem September 2023.
„Es sind nicht nur die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind“ wusste schon der Barde Konstantin Wecker. Er meinte es politisch, aber das gilt auch für Betriebe. Einstige unfreiwillige Randgruppen sind Gott sei Dank längst als wertvolle Mitarbeiter anerkannt. Das gilt z. B. für die stark Introvertierten, denen man u. a. hohes Konzentrationsvermögen und ausgezeichnete Zuhörfähigkeiten zuschreibt und entsprechende Arbeitsplätze anbietet. Gleiches gilt für ADHS-Betroffene, denen z. B. gerne IT-Jobs oder handwerkliche Tätigkeiten offeriert werden. Zeit also für einen ebenso enttabuisierten Umgang mit Legasthenikern im Arbeitsalltag.
Wobei es für diesen Personenkreis keine Beschränkung auf Berufe gibt, sie können alles werden. Sondern hier ist „Offenheit“ der Hebel. Offenheit auf ihrer Seite, aber ebenso auf Arbeitgeber- und Kollegenseite. Es geht darum, Druck bei den Legasthenikern herauszunehmen und Kompetenz in Betrieben zu entwickeln.
„Der Spiegel“ hatte im letzten Herbst drei Betroffene gebeten, von ihren Erfahrungen im Berufsleben zu berichten. Einer war Sebastian Hennings, der Bundesbeamter im gehobenen Dienst geworden ist. Was ihn mit angetrieben hat? Von dem Stigma „Der ist doch ein bisschen blöd“ wegzukommen. Er gibt zu bedenken: „Wie viel Potenzial verschenken wir, wenn das so bleibt?“ Und hofft, dass die KI ihm zukünftig das Arbeitsleben noch stärker erleichtert.
Legastheniker wie Sebastian Hennings haben auf dem Weg ins Berufsleben gelernt, was ihnen hilft. Wenn sie das offen äußern, wenn Betriebe dieses Wissen aufnehmen und ihre Prozesse entsprechend anpassen, wenn Nicht-Legastheniker kompetenter im Umgang mit ihren Kollegen werden, dann sind alle Gewinner. Hohe Kreativität, erfolgreiches autonomes Arbeiten und starke emotionale Intelligenz wird Legasthenikern u. a. zugesprochen. Wenn Betriebe diese und andere Stärken gezielt fördern und nutzen, haben alle etwas davon.